Kirgisistan, Kirgistan, Kirgisien. Obwohl es für das kleine, bergige Land Zentralasiens drei offizielle Bezeichnungen im Deutschen gibt, haben die meisten noch nie davon gehört. Eine korrekte geographische Zuordnung gelingt wenigen. Kenntnisse über die Kultur und Menschen Kirgisiens? Bei den meisten Fehlanzeige. So ging es bis vor kurzem auch mir, bis der Russland-Ukraine-Krieg meinen Plan, nach anderthalb Jahren Japanisch auch mein Schulrussisch wieder aufzufrischen, etwas verkomplizierte.
Bei Recherchen, wo auf der Welt denn noch russisch gesprochen wird, fiel mein Augenmerk auf Kirgisien. Als Ex-Sowjetstaat wird neben kirgisisch dort immer noch russisch gesprochen, aber unter Kasachstan gelegen teilt es keine direkte Grenze mit Russland. Anders als Kasachstan gibt es keine aufgrund von Corona bedingten Einreisebeschränkungen bzw. Beschränkungen im Land und: die Einreise für Aufenthalte bis zu 60 Tagen ist visumfrei. 
Obwohl das Land eher arm ist (das Durchschnittseinkommen liegt bei gerade mal 200€ im Monat) gilt es als vergleichsweise sicher und sehr gastfreundlich. Outdoorfans schätzen Kirgisistan wegen seiner unberührten Gegenden, an denen noch kein Massentourismus stattfindet.
Als ich dann auf der Website workaway.info eine wissbegierige Familie in Kara Balta gefunden habe, die englisch, deutsch und japanisch lernen wollte, und gleichzeitig Hilfe auf der Farm der Babuschka benötigte, fiel mir die Entscheidung, dem Land einen Besuch abzustatten, ganz leicht.
Und so arbeitete ich bald, irgendwie mit Händen und Füßen kommunizierend und nach und nach die Vokabeln für alle möglichen Farmgegenstände lernend, mit meiner nur russisch oder kirgisisch sprechenden Babuschka zusammen, grub Felder um oder pflanzte z.B. Zwiebeln an – dank Gartenbau mit Herrn Kammann nicht zum ersten Mal.
Auch gehörte zu meinen Aufgaben, mich um die Tiere der Farm (20 Schafe, 1 Kuh und 8 Hühner) zu kümmern. Nach dem Landwirtschaftspraktikum ein Kinderspiel. 
Die Arbeit auf den Feldern nahm ich als sehr „erdigend“ wahr, diente der Anbau doch nur zum Zwecke der Selbstversorgung und war unbeabsichtigt biologisch und ressourcenschonend. Keinerlei Maschinen gab es, um die Arbeit zu unterstützen, ich fühlte mich sehr in Harmonie mit meiner Umwelt. 
Das soll nicht heißen, dass es nicht auch anstrengend war. Insbesondere Obst pflücken und für den Winter weiterverarbeiten, also trocknen oder einkochen, war sehr arbeitsreich, denn es wurde nichts verschwendet und das Obst durfte natürlich nicht einfach am Baum verfaulen.
Dennoch war es ein sehr schönes Gefühl, aus dem Gartenbauunterricht bekannte, aber fast vergessene Tätigkeiten erneut auszuführen und mein diesbezügliches Wissen dazu zu erweitern.
Selber als „Lehrer“ tätig war ich auch- allerdings nicht so erfolgreich wie erhofft.
Mein Gastvater war der Einzige, der schon englisch sprechen konnte und nun auch mit Deutsch anfangen wollte. Er war sehr wissbegierig und hat nach vielen Vokabeln gefragt, allerdings hat er aufgrund seiner Arbeit kaum Zeit gehabt, um diese auch zu üben.
Bei meiner Gastmutter sah es ähnlich aus. Lediglich mit dem ältesten Sohn der Familie (15) habe ich ein paar Stunden in Englisch und Japanisch halten können, wobei die Motivation, während der Ferien sich mit irgendetwas Schulischem zu beschäftigen, sehr spärlich vorhanden war. Dafür habe ich insbesondere von den Kindern, mit ihrer Engelsgeduld und Naivität, einfach draufloszusprechen, ziemlich viel Russisch lernen können.
Und auch wenn ich nun doch mehr körperlichen als geistlichen Arbeiten, wie ursprünglich angegeben,  nachgegangen bin, war ich zufrieden auf der kleinen Farm. Mit der Familie habe ich mich sehr gut verstanden und sie hat mir viele Einblicke in ihre Kultur gegeben und mich, so oft es ging, irgendwohin mitgenommen.
Ich habe meine Gastmutter, die Anwältin ist, zum Gericht begleitet und meinen Gastvater zum Viehmarkt, um die Schafe zu verkaufen. Ich wurde auf Feiern mitgenommen, und habe mit Freunden der Familie bald selbstgebrannten Alkohol getrunken und musiziert, wir sind zum Jurtencamp von Verwandten hoch oben in die Berge gefahren und haben das Nationalgericht „Beschbarmak“ gegessen. An meinen freien Tagen konnte ich mich in der Wohnung der Familie in der erstaunlich modernen und grünen Hauptstadt Bishkek frei bewegen und zum Abschluss haben wir gemeinsam einen kleinen Roadtrip um den atemberaubenden  Issyk-Kul See gemacht, den größten Bergsee der Welt.
Ziemlich abgeschottet und schwer zugänglich gelegen, hat sich in Kirgisistan eine ganz eigene Kultur gebildet, ein Mix aus orientalischen(Kirgisisch zählt zu den Turksprachen) asiatischen und sowjetischen Einflüssen, die aufeinander treffen und miteinander verschmelzen. Die Zeit auf den Dörfern scheint stehen geblieben zu sein, sie stehen im krassen Kontrast zur modernen Hauptstadt, in der sich eine kleine Minderheit ein Leben mit westlichen Idealen wie Malls und Nachtclubs leisten kann.
 
Ich habe Kirgisistan nicht nur besucht, ich habe dort gelebt. Ganz unerwartet hat mich die Schule genau auf diese Work&Travel-Erfahrung ziemlich gut vorbereitet und ich habe mich sehr gefreut, einen Weg gefunden zu haben, mich so nochmal mit Russisch und der Landwirtschaft auseinandersetzen zu können.
Work&Travel ist eine super Gelegenheit, ein Land authentisch und mit viel Kontakt zu den dort lebenden Menschen kennenzulernen, ich kann einem Jeden nur empfehlen diese Erfahrung zu machen. Einem „Waldi“, der seine Sprachkenntnisse aufbessern möchte kann ich Kirgisien sehr ans Herz legen. (Ohne Russischkenntnisse könnte es jedoch schwierig werden)
 
Auch die oben genannte Website workaway.info ist sehr empfehlenswert. Gegen eine kleine Anmeldegebühr kann man mit Gastgebern auf der ganzen Welt Kontakt aufnehmen, und im Tausch gegen seine Arbeitskraft Kost&Logis erhalten. (Übrigens werde ich für die Empfehlungen nicht bezahlt, es handelt sich tatsächlich einfach um  wohlgemeinte Tipps für Reisende mit viel Zeit, aber wenig Geld.)

Joline Henßen