Abi 2020. Und nun? Keine Ahnung.
Da stand ich also, Joline Henßen, die eigentlich immer genau wusste, was sie nach der Schule machen wollte- eine Auszeit nehmen für ein oder zwei Jährchen, Freunde in Neuseeland besuchen und danach in Berlin Tiermedizin studieren.
Aber die Pandemie machte mir- wie so vielen- einen Strich durch die Rechnung.
Neuseeland machte im März 2020 die Grenzen auf unbestimmte Zeit dicht, viele weitere Länder, die mich interessiert hätten, schlossen sich dem an.
Also jetzt, Tiermedizin? Eigentlich will ich seit dem Kindergarten schon Tierärztin werden und an dem Wunsch hat sich auch nichts geändert. Aber genau wegen dieses Kindheitstraums wollte ich jetzt nicht damit anfangen, da das Studieren während der Pandemie, im Lockdown vor dem Computer hocken, die Kommilitonen vielleicht zweimal die Woche im Praktikum zu Gesicht bekommen und ansonsten in einer fremden, abgeschlossenen Stadt alleine vor sich hinlernen, meinen Vorstellungen von einem Studentenleben nicht mehr entsprachen.

Was also tun?
Im Sommer 2020 hatte ich lange noch die Hoffnung, dass sich die Lage in ein paar Monaten wieder entspannt und die Grenzen geöffnet werden. Also arbeitete ich erstmal zwei Monate im Lager durch, um Geld für die hoffentlich bevorstehende Reise zu verdienen. Aber schnell wurde klar, dass sich die Pandemie nicht so einfach wieder verflüchtigt und uns noch ein Weilchen begleitet, und dass es für mich so nicht weiter geht. Ich kam abends körperlich ausgelaugt nach Hause, aber war geistig komplett unausgelastet und bald unzufrieden mit meinem Lebensstil.
Also beschloss ich spontan, kurz vor Ende der Einschreibefristen, doch noch zu studieren., aber etwas komplett anderes als Tiermedizin.
Eigentlich hatte ich an mein Studium nur die Erwartung der geistigen Herausforderung, einen Lückenfüller im Lebenslauf zu haben und weiter Kindergeld beziehen zu können.
Doch dann weckte die Beschreibung des Studiengangs „Modernes Japan“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mein ernsthaftes Interesse.
Eine weitere Fremdsprache zu erlernen schien mir eine hervorragende Idee zu sein, die Pandemie zu überbrücken!
Nicht nur stellte ich mir Japanisch geistig sehr fordernd vor, es war auch eine gute Möglichkeit von zu Hause aus in eine neue Kultur einzutauchen, wenn eigentliches Reisen schon nur so beschränkt möglich war.

Was ich nicht erwartet hatte, war das Japanisch mich so begeistern würde!
Ich bin absolut kein „Weeb“, bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nie einen Anime geschaut oder einen Manga gelesen. Ich hatte fast keine Vorkenntnisse über die japanische Kultur. Ich wusste nicht einmal, dass die Japaner neben ihren eigens entwickelten Schriftsystemen „Hiragana“ und „Katakana“, auch die vielen Zeichen der Chinesen, die sog. „Kanjis“ kopiert hatten und bis heute verwenden. Davor hat es mir gegraust, und um mich vor den Kanjis zu drücken, hatte ich extra nicht Chinesisch gewählt (Chinesisch und Jiddisch werden als Studiengang neben Japanisch an der HHU angeboten). Doch ich kam nicht drum rum, und bin nicht böse drum.
Das System, durch welches die einzelnen Kanjis sich aufbauen, finde ich höchst faszinierend.
Es gibt ca. 200 sogenannte „Radikale“ als Bestandteile der Kanjis, nach denen diese sortiert sind. Diese Radikale sind Zeichen, die einzeln auch eine Bedeutung haben und quasi immer wiederkehren. Die meisten Kanjis sind aus mehreren Radikalen zusammengesetzt oder abgeleitet und manchmal ergibt diese Zusammensetzung erstaunlich viel Sinn.
Zum Beispiel setzt sich das Zeichen für „mögen, gerne haben, lieben“ 好 (suki) zusammen aus dem Radikal „Frau“ 女 (onna) und „Kind“ 子 (ko).
Diese kleinen Geschichten, die sich hinter jedem Kanji verbergen, und mal mehr, mal weniger Sinn ergeben, finde ich unglaublich spannend. Und es hat auch etwas Schöpferisches, wenn man sich die Zeit aus dem Alltagsstress herausnimmt, die aufgegebenen Kanjis nach genauer Strichreihenfolge zeichnen zu lernen und mit selbst ausgedachten Eselsbrücken zu merken. Es ist auch nicht so schwer wie gedacht.
Eigentlich finde ich es nicht viel schwerer als Russisch. Durch die vielen Vokale im Japanischen kann ich mir die Vokabeln (ca. 100 Stück die Woche) irgendwie besser merken, ich mag den Klang. Und auch die Grammatik ist ganz anders als im Russischen. Es gibt keine Fälle, keine Pronomen und keine Verben die man je nach Person konjugieren muss.  Das ist doch sehr entspannend. Vielmehr muss man auf Höflichkeit, Intention und Gefühlslage achten, was seine ganz eigenen Herausforderungen mit sich bringt.
Da der Japanisch-Sprachkurs als in Präsenz erforderlich eingestuft wurde, war zumindest dieser für die ersten paar Wochen des ersten Semesters in Präsenz, und man hatte die Chance Kommilitonen kennen zu lernen!
Auch von diesen war ich positiv überrascht. Dass ich mich bis zum Studiumsbeginn nie groß mit Japan auseinandergesetzt habe, störte niemanden. Eher wurde mir geholfen, verpasste Animes nachzuholen.
Und sogar zwei weitere Mädchen habe ich getroffen, die „mit fast so wenig Plan“ wie ich angefangen haben. Und Ihnen gefällt es so gut, dass sie jetzt sogar am vorgesehenen Austauschjahr in Japan teilnehmen, und im Anschluss darüber ihre Bachelorarbeit schreiben werden. Ihr eigentlicher Plan war nach dem Abi 2020 erstmal gemeinsam Work&Travel in Großbritannien zu machen und dann weiter zu schauen.
 
Ich habe bis zum 3. Semester ordentlich studiert, und dann aber die Möglichkeit ergriffen, erst hier in Europa und dann in Kirgisistan reisen zu gehen, um mein Russisch auch wieder auf Vordermann zu bringen. Zwischendrin war mein Japanisch doch deutlich besser als Russisch, aber das ist nach anderthalb Jahren Intensivkurs vielleicht nicht so verwunderlich. Dass ich so lange überhaupt dabei bleiben würde, habe ich anfangs nicht erwartet. Habe ich jetzt meine Zeit verschwendet, indem ich nach der Hälfte des Studiums abgebrochen habe und mir dabei noch nicht einmal ein Fach ausgesucht habe, was für eine angehende Tierärztin relevant sein könnte? Nein!
Ich bin der Meinung mit Japanologie den für mich besten Weg durch die Pandemie gefunden zu haben. Auch wenn ich jetzt keinen Bachelor in den Händen halte, habe ich meinen Horizont erweitert und das Gefühl, etwas geschafft zu haben. Denn anstatt zu verzweifeln und entweder unzufrieden zu sein, mit dem was ich tue, weil es nicht meinen Vorstellungen entspricht, oder im Gegenzug gar nichts zu tun, habe ich eine weitere Fremdsprache gelernt, welche ich bei Bewerbungen ja nun auch unter der Kategorie „Sprachkenntnisse“ angeben kann.
Und das ist mein Appell an alle, die sich noch nicht sicher sind, was sie nach der Schule machen wollen, oder deren ursprünglichen Pläne durch unvorhergesehene Ereignisse von außen verschoben werden müssen: Macht einfach! Fangt einfach irgendetwas an, das euch interessiert, oder wo ihr selbst das Gefühl habt, es könnte euch im Leben weiterbringen, auch wenn es aus einer ganz anderen Kategorie stammt als ursprünglich vielleicht geplant war, ganz egal was irgendwelche Nachbarn oder Verwandte vielleicht dazu sagen werden!
Es ist vielleicht kein Vorteil, als Tierärztin japanisch sprechen zu können. Aber ein Nachteil ist es auch nicht. Sind neue Erfahrungen doch nie. Also fangt einfach an! Vielleicht sogar Japanologie ;-). Hauptsache Ihr habt Spaß! Joline Henßen