Von Gold und Gesängen heißt die Reiseerzählung unseres Kunstlehrers Marc Dimmig, der gemeinsam mit Frau Tikunova die letzte Klasse 11 auf ihrer Fahrt nach Tscheboksary an der Wolga begleitet hat. In den nächsten Wochen werden einige Kapitel daraus hier auf unserer Internetseite veröffentlicht. Die vollständige Erzählung ist im Schulsekretariat als Beitrag in einer Schriftenreihe des Novalis Hochschulvereins erhältlich, ebenso als E-Book im Online-Buchhandel (siehe Abbinder).
Viel Spaß beim Lesen!
Eine Russlandreise? Irgendwo in einem versteckten Saal geht eine schwache Beleuchtung an, eindringlich fahl. Nichts ist deutlich erkennbar, gleichwohl muss alles bizarr und bezaubernd sein. Ein Dornröschensaal, in kühler Erstarrung harrend, eine winterliche Stille wie ein reich verziertes Gewand. Der Blick des Prinzen noch schläfrig, kaum ein Blinzeln. Wie kam er nur hierher?
Russland könne man nicht verstehen, sagt jemand. Das erklärt provisorisch meine Stimmung, seltsam fremdartig und doch nicht unvertraut, als ich gefragt werde, an einer Russlandreise teilzunehmen.
Ich bin im Westen aufgewachsen, in meinem Diesseits des eisernen Vorhangs. Jenseits des Vorhangs war nichts als ein merkwürdiges Experiment, dessen Verlauf abfällig kommentiert wurde, nur wenige idealisierten es unverdrossen, galten aber als sonderbar. Das dunkelgraue Bild eines gesellschaftlichen Systems mit schematischen Zeichen und verblichenen Mustern war der zweite Vorhang. Und er verschwand nicht mit dem eisernen. Er blieb und bekam einen neonfarbenen Punkt, als die erste McDonalds-Filiale in Moskau eröffnete. Mit den Jahren zerschliss der Vorhang, wie der alte Mantel des Akaky Akakievich von Gogol, aber um durch die Löcher zu spähen hätte man neugierig sein müssen auf das, was dahinter lag.
Kapitel 1 – Unterwegs
Ereignisse sind Überraschungen, ob sie im Terminkalender stehen oder nicht. So kam es, dass ich an dem Abreisetag mit den Mitreisenden auf dem Flughafen stand und mir das längst Gewusste plötzlich bewusst wurde, nämlich dass es jetzt losging. Als Betreuer eines neunköpfigen Russischkurses, selbst kein Wort Russisch sprechend, auf die Hilfe der Schüler und vor allem der Russischkollegin angewiesen, war ich mir meiner Verantwortung und meiner Machtlosigkeit bewusst.
Ein Flug nach Moskau in die einbrechende Dunkelheit, den Tag zwei Stunden verkürzend. Wir flogen in eine andere Kultur. Vor zweihundert Jahren noch hätten nach Moskau reisende Emissäre den kulturellen Wandel bemerkt, ihn gesehen, gehört, an den Bauwerken auf ihrem Weg, den Menschen, ihrer Sprache, ihrem Verhalten, am Essen. An jedem Tag ein wenig anders, jeder Tag nachklingend, prägend; Unvergessenes ohne Fotoalben. Falls sie einen offenen Sinn gehabt hätten. Vielleicht wünschten sie sich aber auch einfach schnellere Verkehrsmittel.
Wir jedenfalls flogen in eine andere Kultur. Wir hoben ab und wir landeten, dazwischen auf enge Sitze geschnallt mit unseren Gedanken und Gesprächen, mal stoisch mal aufgekratzt, jedenfalls bewegungslos mit einem Affenzahn durch die umgebenden Luftmassen rasend. Fliegen im technischen Sinne. Fliegen im eigentlichen Sinne bedeutet Flügel aufspannen. Das wurde mir klar, als ich meine Knie an der Rücklehne meines Vordersitzes verkantete und mich der Mikroakrobatik des Auspackens und Vertilgens der Flug-Mahlzeit widmete. Nichts wäre unfliegerischer, unflugmäßiger, unflügelhafter gewesen. Erlebte Enge, gedachte Weite. Unter uns jetzt Weißrussland. Die Maschine als weißer Punkt über eine digitale Landkarte krabbelnd. Krabbeln, Fliegen, ständiges Dolmetschen zwischen Wahrnehmung und Denken. Ein Anflug von Nostalgie: wäre ich doch ein Emissär vor zweihundert Jahren. Oder lieber nicht: tagelanges Kutschenfahren und die Wirbelsäule, ein eklatanter Widerspruch. Jedenfalls kratzte keine dieser traumbefangenen Überlegungen meines allmählich aufweichenden Verstandes an das Wohlgefühl. Woher kam es eigentlich? Selbst die Turbulenzen konnten ihm nur wenig anhaben. Zu früh fast die Durchsage zum Landeanflug, dreisprachig in liturgischer Länge. Wir kamen an.
Nach der Landung fuhr die Maschine gefühlt durch halb Moskau, in Wirklichkeit war der Flughafen Scheremetjewo riesig. Dann die ersten russischen Schriftzeichen, die ihren Schabernack trieben: Das P zum R, das H zum N, das B zum W. Der Vorteil an chinesischen Schriftzeichen wäre meine glasklare Verständnislosigkeit, hier jedoch wurde Bekanntes und Vertrautes ins Schwanken gebracht. Immer noch Wohlgefühl? Ja! Abendliche Abenteuerlust im Anderswo!
Eine Fahrt nach Moskau in die aufleuchtende Helligkeit, vorbei an dunklen Außenbezirken monströser Hochhaussiedlungen, über eine mehrspurige Straße mit erst kleineren, dann immer größeren und noch größeren Edelgeschäften, endlos lang in eine Lichterallee mündend, Lichterbäume, baumartige Lichtgebilde, im faszinierten Überraschtsein noch endloser erscheinend, zum Glück endloser; zum weiterglitzernden Zentrum mit Lichtskulpturen, kugelartig, tierförmig, Schlitten und Märchenfassaden, maximal verzaubernd vor dem Bolschoitheater. Irgendwo zwischendrin wie ein Bettler in einem Palast der Gedanke an Stromverbrauch.
Eine Stunde des Staunens im Taxibus. Der allerletzte Gedanke an einen Traum, aus dem man jetzt noch erwachen könnte, die Augen im vertrauten Bett aufschlagend. Stattdessen kalte kontinentale Luft: Ausstieg und Aufstieg in das Kapselhotel Rus-Kitay-gorod. Den Eingang entdeckten wir in einem dunklen Hinterhof; seine Unauffälligkeit erreichte kaum den lichtgeblendeten Blick. In der Mitte des Treppenhauses gab es einen schmalen Aufzugschacht, vielleicht mit einem Aufzug, der aber einen Zauberspruch verlangte, oder einen Spezialschlüssel. Meine Kollegin Svetlana regelte das und entstieg plötzlich der Sesam-öffne-dich-Aufzugtür in Begleitung eines Hotelmitarbeiters. Die kleine Aufzugkabine wurde mit Koffern gefüllt; uns blieb der Aufstieg ins Obergeschoss. Oh diese Unregelmäßigkeit der Treppenstufen! Nahezu bewusstseinserweiternd.
Oben dann ein Nadelöhr hinter der schönen, hölzernen Eingangstür. Besser gesagt: ein Stau an dem schmalen Durchgang vor der Rezeption. Die Schuhe mussten direkt ausgezogen und in Plastikkisten in ein Regal verstaut werden. Wir bekamen Einmalpantoffel. Das war überraschend und wäre bei längerem Aufenthalt der Ursprung einer neuen Routine gewesen. So aber sortierte man sich und sein Gepäck, teilweise auf einem Bein balancierend zwischen anderen Akrobaten. Die Maßnahme ließ immerhin auf Hygiene und Gemütlichkeit schließen. In der Tat landeten wir in einem sympathischen, hohen Raum mit Küchenzeile und einem langen Esstisch, in dem sich einzelne Gestalten in Trainingshosen schweigsam wie in einer Bibliothek hin und her bewegten. Die Türen, die sie benutzten, führten in den Sanitärbereich, ähnlich wie auf einem Campingplatz, oder in die Schlafräume.
Was war nochmal ein Kapselhotel? Eine japanische Erfindung, auch Wabenhotel oder Schließfachhotel genannt. Es handelte sich in unserem Fall um eine Unterkunft in der obersten Etage eines Altbaus mit großzügigen Räumen, die durch Bettkapseln übereinander und nebeneinander unterteilt wurden. Eine Bettkapsel maß ca. zwei Meter in der Länge, einen in der Höhe und einen in der Breite. Der allerletzte Gedanke an den Besuch einer Ausstellung moderner Wohnformen in Metropolen verschwand, nachdem klar wurde, dass man dadrin die Nacht zu verbringen hatte. Nach Ablauf der emotionalen Rituale, im Wesentlichen bestehend aus Empörung und Resignation, robbte ich auf die Liege, und siehe da, my home is my castle, zwei Kubikmeter Privatissimum mitten in Moskau, erstaunlich ruhig, und auch die Schüler waren mit ihren Kapseln zufrieden.
Wenn Sie jetzt schon weiterlesen möchten:
Die Reiseerzählung von Herrn Dimmig ist im Novalis Hochschulverein Schriften 4 erschienen und kann käuflich erworben werden. Wo?
- als Print für 10,- € bei uns im Sekretariat
- oder für 5,- € als E-Book online beim Novalis Hochschulverein