“Von Gold und Gesängen” heißt die Reiseerzählung unseres Kunstlehrers Marc Dimmig, der gemeinsam mit Frau Tikunova die letzte Klasse 11 auf ihrer Fahrt nach Tscheboksary an der Wolga begleitet hat. Hier folgt der zweite von drei Teilen der Erzählung, die wir hier veröffentlichen. Das vollständige Werk ist im Schulsekretariat als Beitrag in einer Schriftenreihe des Novalis Hochschulvereins erhältlich, ebenso als E-Book im Online-Buchhandel (siehe Abbinder).

Viel Spaß beim Lesen!


Kapitel 2 – “Moskau”

Der Name der Dame war serbisch und weiß wie Schnee, Sneschana. Ihr Deutsch war temperamentvoll und verständlich. Ein Akzent aus gedehnter Kehle, aus den Höhlungen und Wölbungen des Sprechens, stets auf dem Sprung zur Musik. Die Musterung ihres Mantels entsprach der Hoffnung, der Schnee möge bald schmelzen: sprießende Farben auf Altweiß.

Bei der Busexkursion durch das verschneite Moskau riss ihre Stimme nicht ab, einen Stoff aus Wissenswertem und Schnellvergessenem webend, an einigen Stellen ließ sie uns in dem leichten Schneetreiben aussteigen. Über der Moskva, auf einer Aussichtsplattform in Gestalt einer halbierten Brücke frierend, sahen wir eine der acht Schwestern, von denen sieben in Moskau stehen. Mannweiber, dachte ich. Gemeint war ein Gebäude in stalinistischer Architektur, stattlich, imposant, kühl emporragend, jedenfalls nicht weiblich. Der fallende Schnee zog einen weißen Schleier über die mannhafte Schwester und besänftigte ihre Kompromisslosigkeit.

Auf der anderen Seite der sagenumwobene Kreml; viel weiter als bis zur geputzten Mauer kamen unsere Blicke jedoch nicht. Schwach durch den Schneenebel drang leuchtendes Gold, die Kuppeln der orthodoxen Kirchen. Und irgendwo dort, kaum denkbar, lag das russische Machtzentrum. Doch der Kreml war heute nicht unser Ziel. Stattdessen ein Besuch in der Erlöserkirche, nach dem Sieg über Napoleon gebaut, von Stalin gesprengt, von Chruschtschow zu einem Schwimmbad gemacht, in neuerer Zeit wieder aufgerichtet, die alte, große Erlöserkirche in neuer Bausubstanz. Unsere Schritte wurden durch einen Gottesdienst verlangsamt. Die Schülerinnen mit Kopftuch, die Schüler barhäuptig, verteilten sich unter die Gläubigen. Keine Bänke, keine Verfestigung durch Sitzen. Die Menschen verbindend war ein ungewohntes Momentum religiöser Inbrunst, verhalten zwar, doch dem vertrauten Appell zum Vernunftgebrauch zuwiderlaufend. Kritische Religiosität? Distanzierte Andacht? Ich kam mir vor wie ein am Flussufer verfangenes Stück Holz. Warum nicht mitströmen? Falltüren gingen auf, luden zum Sprung in die Naivität ein. In die Einfalt? In die Weisheit? Einfach springen und strömen und verehren und sehen, was geschieht … Wäre eine Option gewesen, doch nicht mit einem Kopf wie ein Bremsklotz.

Stattdessen schauender und lauschender Hochgenuss! Das Gold war der Grundton, der Chorgesang die Farbigkeit. Überwältigende Ästhetik! Selbst die Priester wandelten dort als verehrungswürdige Ehrwürdigkeiten. Kein Gedanke an religiösen Mummenschanz, jedenfalls nicht jetzt. Mein Zynismus war in der Regel pünktlich, also stimmte hier irgendwas nicht. Vielleicht war ich ja doch schon gesprungen – ein unbemerkter Sprung; oder einfach hineingerutscht. Frauen und Männer um mich herum wiegten verhalten ihre Köpfe, flüsterten Gebete, hörten zu, den Popen, dem Gesang. Oder nein, kein Zuhören; eine Teilnahme, ein stummes Mitmachen. Wie aus dem Mittelalter brach ein Gedanke hervor: Verehrung sei eine Fähigkeit. Das Heilige identifizieren und sich darin fallen lassen können um vielleicht aufgehoben zu werden; bescheiden, unekstatisch, authentisch; auch nicht aufgesetzt daherzelebriert; mehr als nur Würdigung von irgendwem oder irgendwas. Weit, weit war ich schon vom Westen entfernt. Jemand zog mich am Arm, die anderen warteten schon.

Der übliche Weg zum roten Platz war polizeilich abgeriegelt. Unsere Stadtführerin verhandelte mit einem Polizisten, vergeblich. Es gab keine Abkürzung. Der Umweg war ein Marsch durch Menschenmassen, ein entschlossenes Vorwärts mit unzähligen Kurven in der Menschenmenge. Einige Leute trugen Schilder mit Stalinplakaten. Wo zum Teufel waren wir? Weit vor mir ein Mantel mit bunten Flecken auf Altweiß, durch die Versammelten pflügend, dazwischen ein, zwei, drei, vier … neun Schüler Gott sei Dank und meine Kollegin Svetlana. Am Schluss ich in schwarzem Mantel. Eine Kapelle. Marschmusik? Volkslieder? Die Kommunistische Partei in alten Ehren. Wichtige Mienen überall, auch bei den Polizisten. Das satte Selbstbewusstsein von Menschen, an denen man im wahrsten Sinne nicht vorbei kommt. Kamen wir aber, ha, vorbei an der Bühne, auf der neue Parteimitglieder begrüßt wurden. Herzlichen Glückwunsch. Vielleicht dann doch lieber Putin? Keine Zeit, die neueste Verwirrung zu sortieren. Die Gruppe war vollzählig, trabte etwas geschlossener voran und erreichte durch einen Nebenzugang den roten Platz.

Ich erfuhr, dass wir gerade eine Veranstaltung eines der wichtigsten Feiertage durchquert hatten, den „Tag des Verteidigers des Vaterlandes“. Zwei Wochen vor dem Weltfrauentag lag dieser russische Männertag, der auf die Gründung der roten Armee zurückging, mittlerweile aber alle Männer umfasste, alle irgendwie Verteidiger von wem auch immer.

Die Sonne kam heraus und weitete den Blick von den nächstliegenden Imbissbuden zur Basilius-Kathedrale am anderen Ende des roten Platzes. Nach militärischen Siegen und Eroberungen wurden Kathedralen gebaut. Diesmal der Sieg über die Tataren in Kasan im 16. Jahrhundert durch Ivan den Vierten, den Strengen, nicht den Schrecklichen, wie uns gesagt wird. Ein Übersetzungsfehler angeblich, von Engländern begangen. Der strenge Ivan jedenfalls legte mit seinem Sieg den Grundstein für das russische Großreich. So wie das alte Europa mit der Besiedlung Amerikas begann, einen Flügel gen Westen aufzuspannen, so auch gen Osten, jeweils bis zum Pazifik. Der Neuzeit schienen zwei gewaltige Flügel zu wachsen, die notdürftig an dem geschüttelten Rumpf eines zu kleinen Vogels befestigt waren.

Die Sonne und die Kathedrale zauberten unterdessen unbeirrt ein Lächeln auf die Seele. Ein Lächeln, das auf der einen Seite in Ironie abgleiten konnte (kitschig, Disneyland) und sich auf der anderen Seite beflügelt ins Märchenhafte erhob. Ein west-östliches Lächeln. Wie eine seltene Pflanzenart ragten die bunten Kuppeln in den aufklarenden Himmel, etwas zu eng gepflanzt, aber auch traulich familiär.

Ein glasharter Gegensatz: Die Blickachse zur Basilius-Kathedrale überschneidend lagerte vor der Kremlmauer das Lenin-Mausoleum. Die Kremlmauer war lang, der rote Platz war weit und groß, bot viel Freiraum innerhalb massiver Einfassung. Der Blick erhob sich mit den Gebäuden, mal in redseliger Pracht wie auf der Seite des Edelkaufhauses GUM, mal in schweigsamer Würde wie die Kremlmauer, oder mit dem Spiel der Kathedralenkuppeln vor dem Himmel. Anders das Lenin-Mausoleum. Zusammengepresste Dichte, unüberwindbare Schwere; ein unterirdisches Gravitationszentrum, das die Erdoberfläche durchbrach. Bevor sich mein Rückgrat bog, wandte ich mich ab. Die Stadtführung war zu Ende, und wir begaben uns ins GUM.

Das GUM – ein Konsumtempel gegenüber dem Machtzentrum Kreml, flankiert vom Historischen Museum, in Hörweite der Verteidiger des Vaterlandes und der Kommunistischen Partei. Es war – endlich – angenehm warm. Nach dem Geldwechseln eine Stunde Entspannung in diesem zweifellos schönen Gebäude – die Schaufenster und Logos streckten ihr Design unaufdringlich nach den Flaneuren aus. Die Schüler versickerten in das Gebäude, über Treppenverbindungen rauf und runter, fast wie in Little-Hogwarts. Wir Lehrer erkundeten ein Spezialitätengeschäft, gemessenen Schrittes, beinahe andächtig uns vorwärtsbewegend, die Waren im Kurzzeitgedächtnis verlierend. Wo kamen nur diese Massen an Spezialitäten her? Das erste Mitbringsel immerhin, etwas Süßes in Verbindung mit Literatur, sehr speziell.

Danach wurde es sportlicher: Koffer holen im Hotel, Koffer im Fahrstuhl eng wie ein Käfig, die Schüler bewusstseinserweitert die Treppen rauf und runter. Metroabenteuer zum Kasaner Bahnhof, ohne Svetlana wären wir wahrscheinlich in Petersburg gelandet. Verlangsamtes aber nicht meditatives Schreiten mit Koffern durch Schleusen, Gänge, Sicherheitskontrollen. Die magische Zahl Neun, immer wieder durchzählen, keinen verlieren.  Wieder Treppen, diesmal mit Koffern, stiller und lauter Protest gegen das Gewicht, gegen die gefühlte Wucht der labyrinthischen Ausdehnung unseres Weges. Unser Zeitmanagement war solide, am Bahnhof hatten wir noch Zeit bis zur Abfahrt des Zuges, hinein ins KFC, jedenfalls die Schüler. Die Lehrer genossen weitere Spezialitäten. Atem holen.

Unter einem dunkelvioletten Abendhimmel in einen Nachtzug zu steigen, der einen noch weiter Richtung Osten bringt, in eine immer weitere Ferne, ist eine in völliger Ergebenheit zu begehende Tat. Die Bahnsteige sind voller Koffer und Poesie, alles was man sieht ist filmreif, und letztlich, so ist es ja, geht man ins Bett. Aufbruch durch Ins-Bett-gehen, Nachtzug eben. Doch erst mussten die Koffer, die schweren, in die oberen Ablagefächer gewuchtet, die Sitze zu Liegen geklappt und die ganze Aufgekratztheit in Müdigkeit verwandelt werden. Das dauerte. Die Reisebegleiterin war mit Geduld gesegnet, bis sich der Inhalt einer Chips-Flips-oder-was-Tüte, jedenfalls etwas mit der Anmutung frittierter Fischköder, auf den Boden verteilte. Was folgte, war Russisch für Anfänger mit Englischbrocken, inclusive Kehrblech und Handfeger. Irgendwann kehrte dann, mit Hilfestellung, Ruhe ein. Für die Hilfestellung übrigens bugsierte ich meine Einmeterneunzig umständlich aus meiner oberen Liege heraus und auf den Gang, nachdem ich sie zuvor nicht ohne Elan nach oben bugsiert hatte. Dies wirkte sich positiv auf meine Überzeugungskraft aus, und auch die russischen Fahrgäste konnten jetzt schlafen.

Wie schön ist es in einem Nachtzug einzuschlafen. Man sollte viel öfter Nachtzug fahren. Das gleichmäßige dezente Rattern und das sanfte Schaukeln versöhnen einen mit allem, selbst die abgeknickten Beine in den viel zu kurzen Liegen schlafen ein, und man selbst irgendwie mit. Zwischendrin ein Blinzeln: Waren da Souvenirverkäuferinnen auf dem Bahnsteig beim ersten Stopp hinter Moskau mitten im Schnee der angebrochenen Nacht? Mit beleuchtetem Glas-Nippes im Bauchladen? War ich jetzt in Russland?

Gut geschlafen, draußen Schnee, hell, leicht gewellte Weite; verträumte Blicke erreichten die Landschaft, nach Fremdartigem Ausschau haltend, auf den ersten Blick kaum fündig werdend. Weitgehende Normalität 3000 Kilometer von zu Hause entfernt. Aber doch anders auf den zweiten Blick, die Strukturierung der Felder und Bezirke weniger klar, unscheinbare Dörfer versteckt wie Ostereier. Der dritte Blick haltsuchend, sich an Markierungen klammernd, da und dort eine Stromleitung, ein kleines Haus, wo waren die Bewohner? Doch dort: zwei Männer, vielleicht Bahnarbeiter, standen da, scheinbar immer schon, und ließen den Tag, wie auch alle anderen, auf sich zukommen. Deutsche Phantasien. Auf einmal Straßen, mehr Straßen, LKWs, Vorstadt, Bahnhof Tscheboksary.

Wenn Sie jetzt schon weiterlesen möchten:

Die Reiseerzählung von Herrn Dimmig ist im Novalis Hochschulverein Schriften 4 erschienen und kann käuflich erworben werden. Wo?

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