Von Gold und Gesängen heißt die Reiseerzählung unseres Kunstlehrers Marc Dimmig, der gemeinsam mit Frau Tikunova die letzte Klasse 11 auf ihrer Fahrt nach Tscheboksary an der Wolga begleitet hat. In den nächsten Wochen werden einige Kapitel daraus hier auf unserer Internetseite veröffentlicht. Die vollständige Erzählung ist im Schulsekretariat als Beitrag in einer Schriftenreihe des Novalis Hochschulvereins erhältlich, ebenso als E-Book im Online-Buchhandel (siehe Abbinder).

Viel Spaß beim Lesen!


Kapitel 3 – “Von Türmen und Fischen”

Große Wiedersehensfreude! Ein herzliches Willkommen durch die russischen Austauschschüler, die ein halbes Jahr zuvor bei uns waren und nun für zwei Wochen unsere Gastgeber wurden. Menschen aus Fleisch und Blut mit echten Stimmen, eine fast schon luxuriöse Wirklichkeit, auferstehend aus dem Hades der sozialen Medien. Man fiel sich in die Arme, man konnte sich noch in die Arme fallen, zwei, drei Wochen bevor die Corona-Pandemie – wir schreiben das Jahr 2020 – dies verhindert hätte. So gerade noch, unbeschwert, was hatten wir nur für ein Glück!

Ich wurde meiner Gastfamilie vorgestellt. Im ersten Buch Mose, in der Genesis, nach der Erschaffung der Welt und der Vertreibung aus dem Paradies, nach der Untat Kains und der Sintflut erzählt die Bibel die Geschichte vom Turmbau zu Babel. Noch mit einer gemeinsamen Sprache begabt, bauten die Menschen einen Turm, der in den Himmel reichen sollte. Die Materie in konzertiertem Handeln auftürmend wollten sie sich einen Namen machen, ihr Schicksal bereits erahnend. Doch sie konnten ihm nicht entrinnen. Zerstreut wurden sie in alle Länder und verwirrt wurden ihre Sprachen, dass keiner des anderen Sprache verstehe. Das Ergebnis wurde mir in diesem Moment auf dem Bahnsteig von Tscheboksary in der Republik Tschuwaschien klar. Ich stand Tatiana und ihrem Sohn gegenüber. Glücklicherweise hatte der liebe Gott die Freundlichkeit in den Mienen der Menschen nicht verwirrt. Dies war Sprache genug für diesen Moment. Die Gesellschaft zerstreute sich nun, vorübergehend bis zum folgenden Tag.

Die nonverbale Kommunikation eröffnete neue Perspektiven: sprechend war die geöffnete Kofferraumklappe, die offene Beifahrertür, das Nebeneinandersitzen in einem SUV mit Spikes durch Schneematsch fahrend. Mein Fuß suchte die Bremse, aber alle fuhren routiniert schnell über breite Trassen und breite Kreisverkehre ohne Fahrbahnmarkierungen wie zerstreute Wesen, die nun keinen Turm mehr bauten (nur noch zehnstöckige Wohnsilos), sondern auf asphaltierten Irrwegen dröhnend hin- und herhuschten. Was dem einen Abenteuer, ist dem anderen Normalität. Ich schielte zu Tatiana hinüber. Wachsamkeit bei ihr wie bei einem Jäger auf dem Hochsitz. Nicht in meine Richtung, denn nachdem die ersten Englischphrasen ins Leere gelaufen waren, kam von meiner Seite nichts mehr. Und wieder schlug mir mein Deutschsein ins Bewusstsein, diesmal durch die fehlenden Fahrspuren. Nicht ganz fehlend natürlich, sie wurden durch das Fahren realisiert, drei nebeneinander, auch im Kreisverkehr. Autofahren, wurde mir als Kunstlehrer bewusst, war in Deutschland wie Malen nach Zahlen. Ich hätte eigentlich jubeln sollen – endlich frei! – doch Blech ist härter als Pinsel, und so freute ich mich über Tatianas Wachsamkeit.

Ich fühlte mich, merkwürdig, gleichzeitig verloren und gut aufgehoben, süß-sauer sozusagen. Mein Zimmer war das Kinderzimmer, die beiden Jungs, neun und sechzehn, mussten in den nächsten zwei Wochen im Wohnzimmer schlafen. Vereinzelte Brocken Englisch: Marc, eat! oder: Marc, come eat! Nette, zuvorkommende Jungs, die einem Lehrer ihr Zimmer zu Verfügung zu stellen hatten und dies mit der Souveränität einer natürlichen Gastgeberschaft taten. Es war die neunte Etage, die winzigen Fische im Aquarium konnten fast aus dem Fenster gucken, doch sie schwammen unbeeindruckt ihre Fischbahnen, keine Gewohnheit kennend, keine Entschlüsse, vermutlich auch keine Abgründe. Ich dagegen guckte aus dem Fenster, sah weit unter mir einen Innenhof, umrahmt von anderen Bauwerken derselben Art, nüchternen Wohnsilos, mit einem verschneiten Spielplatz. Diese Anordnung wiederholte sich in weiten Teilen Tscheboksarys, nur die Anzahl der Etagen variierte etwas. Aha, dachte ich, empfand nicht viel, immer noch süß-sauer ausbalanciert, und ließ die Dinge auf mich zukommen.

Kapitel 4 – “Schule Nummer 41”

Nach einem schweigsamen, vorzüglichen Frühstück mit herzhaften, gemüsegefüllten Teigtaschen und Tee, begann am nächsten Morgen der Schultag. Eine Fahrt im Schneeregen, ein zweistöckiges Schulgebäude. Ehemals himmelblaue Fassadenelemente leisteten passiven Widerstand gegen das Weißgrau des Tages. Das Weißgrau wechselte ins Grauweiß und wieder zurück. Bunt waren die Jacken einiger Schüler mit Langlaufskiern, die sie in die Schule trugen. Ich genoss den Anblick des nüchternen Gebäudes und ging auf die dunkle Eingangstür zu. Was gab’s da zu genießen? Das Ungewohnte! Ich stellte mir einen alten König vor, der Jahrzehnt um Jahrzehnt durch das prunkvolle Portal seines prächtigen Schlosses geschritten war, dieses Anblicks müde geworden. Und schon frischte mir das Ansehen der dunklen Eingangstür auf! Man hätte sie für unscheinbar halten können, doch nicht ich, nicht jetzt, schon gar nicht mit gemüsegefüllten Teigtaschen im Magen eine neue Lebenslage begrüßend.
Hinter der Tür eine Sicherheitsschleuse! Weibliche Wachhabende! Hart gefrorene Gesichter, die, wie ich später feststellte, schocktauen konnten, wenn sie wollten. Wollten sie aber nicht. Irgendwie war ich wohl zu exotisch – iich? Mein Migrationsvordergrund war scheinbar offensichtlich. Hier wie da das Ungewohnte, das Neue, das Was-nicht-passt-kann-vielleicht-gar-nicht-passend-gemacht-werden. Kurzes Taxieren. Schließlich internierte ich mich, oder wie nennt man es, wenn man durch eine Sicherheitsschleuse eine Schule betritt? Da stand ich nun wie eine neue Skulptur in einem Museum, Blicke auf mich ziehend, auch von vorbeieilenden Schülern. Auch von älteren Frauen, die einfach dasaßen, so wie auch in den orthodoxen Kirchen immer welche dasaßen, nichts Bestimmtes im Sinn habend, und wenn dann etwas Geheimes im Schilde führend, oder einfach den Lauf des Lebens bezeugend.
Die Konrektorin kam, jedenfalls eine Dame mit Weisungsbefugnis, und führt mich – nicht direkt ab, aber zielstrebig und währenddessen charmant Englisch plaudernd in ihr Büro. Ich war eine Stunde früher da als meine Truppe und wurde nun gefragt, welchen Unterricht ich denn jetzt sehen wolle. Ich könne doch einfach noch ein Stündchen draußen spazieren gehen, versuchte ich einzuwerfen. Das sei nicht vorgesehen, meinte sie. Also wohin? Bloß nicht Kunst, nicht am frühen Morgen. Mehr um ein englisches Wort auszuprobieren sagte ich „Maths“, woraufhin mich eine ältere Schülerin in die Klasse 8 führte und sich zu meiner Orientierung neben mich setzte. Dreiecke, Sinus, Cosinus, danach nichts mehr verstanden. Aber ein Gespräch über einen Berufswunsch, in gebrochenem Englisch geflüstert: Diplomatischer Dienst, Botschaft usw. Ich sah die Schülerin an. Ja klar – das passte! Ein Blick, der schon viel gesehen hat, ein Gesicht, hinter dem Geheimnisse so sicher sind wie hinter Kremlmauern, ein natürlich wirkendes Interesse und eine sichere Ansprache.
Die letzte Reihe, welch ein Perspektivwechsel! Vor mir Schuluniformierte (hoffentlich korrekt gesagt, übrigens nicht zu verwechseln mit Uninformierten), in Anzug oder Rock. Musste nachfragen, ob ich wirklich in einer achten Klasse sitze. Die Kinder würden ein Jahr später eingeschult, aha, trotzdem kein Grund, schon so erwachsen auszusehen. Doch oberhalb des Kragens auch mal krause Haare und junge Gesichtszüge, die noch nicht auf ihren Gleisen fuhren. Gelächter, Träumereien hin und wieder, doch auch Disziplin, Konzentration. Die Tafel füllte sich mit Zeichen, die mir teilweise bekannt vorkamen. Jeder kam mal dran und absolvierte eine Aufgabe. Kinder waren sie wieder in der Pause, bewegten sich noch flink oder schon ungelenk in den langen Gängen.
Um neun Uhr waren die anderen da, fast vollzählig, eine Krankmeldung. Wir trafen uns im Klassenraum der Klasse 11 zu einem ersten Austausch zwischen deutschen und russischen Schülern. Eine Vorstellungsrunde und ein Memory-Spiel mit Bildern des Schullebens, das alle zusammenführte und das Gemeinschaftsgefühl der kommenden zwei Wochen entzündete.
Wer glaubt, die Reisebeschreibung eines Lehrers solle besser da aufhören, wo der Unterricht beginnt, saß noch nicht in einer Klasse mit tschuwaschischer Tracht, die gerade Musikunterricht hat, so richtig mittendrin. Ich bekam eine Rappel in die Hand gedrückt, durfte aber nicht – warum nicht? – den Rhythmus interpretieren. Dennoch, oder gerade deswegen, schön die Lieder, und Sangesfreude im Sitzen und im Stehen, herrlich und laut! – meine Herren! Und Zack, danach Sportunterricht auf bunt lackiertem Holzfußboden. Vorher ein Lied nach dem anderen, jetzt ein Spiel nach dem anderen. Svetlana und ich saßen an der Seite, darauf bedacht, keinen Ball abzukriegen.
Dann Russisch für Ausländer, didaktisch professionell, routiniert, präzise, charmant und mit Belohnungen. Es gab immer einige Austauschschüler in Schule Nummer 41 (jawohl, Nummern, jede einzelne Schule), die sich hier länger aufhielten. Die Lehrkräfte waren übrigens Lehrerinnen. Nur ein Mann, ein Werklehrer mit laufender Motorsäge, unterbrach das Schema. Jetzt verstand ich den strengen Blick der wachhabenden Damen an der Sicherheitsschleuse.
Den Höhepunkt des heutigen Schultages bildete die Bühnenpräsentation einer Deutschgruppe. Deutschland wurde besungen, die Logos einschlägiger Automarken, Kreise, Stern, Blauweißes, man kennt sie, an die Wand gebeamt, wie Glücksbringer in die Aula hineinstrahlend, bevor die wichtigsten Persönlichkeiten deutscher Kultur eingeblendet wurden: Frank Elstner, dann Michael Schumacher und Goethe. Mit Leidenschaft oder einfach leidend vorgetragen erklang die Lyrik unserer Muttersprache, von Musik untermalt. Goethe, vorher noch auf Platz drei, wurde plötzlich auf Platz eins gehoben. Er sei der/das Beste aus Deutschland, quasi der Inbegriff. Ein Stoßseufzer formte sich in mir und drang an die Oberfläche, doch aufgehalten durch ein erneutes west-östliches Lächeln. Verehrung angesichts des Goldgrundes einer Geistesgröße wie das Entzünden einer Kerze. Finger weg von den Lichtschaltern, ihr Deutschen! Es geht nicht darum, Dinge zu beleuchten, auszuleuchten, intentional, zielgerichtet, oh nein! Es geht darum zu leuchten, schlicht, einfach und geduldig ausdauernd wie eine große Bienenwachskerze mit einer Flamme, die durch nichts aus der Ruhe gebracht wird, und dann zu warten, was sich ihr nähert.
Blickte ich gerade auf einen Zipfel russischer Kultur? Aufmerksam saß ich in der ersten Reihe auf dem Ehrenplatz der Besucher. Irgendwann Applaus, wohlverdienter, und dann die Frage, welches der beste Vortrag gewesen sei. Hörte ich recht? Doch die spontane Reaktion aus unseren Reihen, alle seien gut gewesen, erlöste die Schüler und auch die Deutschlehrerin. Was war das? Mein Körper saß stabil unter der Regie eines intakten Gleichgewichtsinns, ein deutsches Gehirn tragend, das völlig neue Impulse empfing. Fatale Logik: Das Verehrungsbedürfnis braucht Helden, Sieger. Von wegen Kerzen! Siegertreppchen überall! Mir kamen die großen Vitrinen randvoll mit Pokalen in den Sinn, die im Foyer standen. Eigentlich nichts Außergewöhnliches: Bildung als Sportveranstaltung – kennt man. Aber Auszeichnungsdrang nach einer Darbietung klassische Dichtung? Doch zum Glück nicht Enttäuschung, sondern Erleichterung beim Verzicht auf Auszeichnung hier und jetzt in einem kurzen Moment unverhoffter Zwanglosigkeit.
Zwischen die gemischten Gefühle drängten sich vertraute körperliche Bedürfnisse. Der Unterschied zwischen Gefühl und Trieb stets eindrucksvoll: Gefühle wie wehend, windend, hellend, dunkelnd – Triebe wie flutend, ebbend, selbst in sanftem Tempo, wie jetzt zur Mittagszeit, als es in die Schulkantine ging. Das gemeinsame Mahl vereinheitlichte das Menschsein auf eine angenehme, grundberuhigende Weise und stellte all seine Besonderheiten auf ein gemeinsames Fundament. Es leben die Schulkantinen!

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