DIE 12 SINNE IN DER WALDORFPÄDAGOGIK
TEIL 2 – DER LEBENSSINN

In meinem letzten Bericht habe ich den Tastsinn vorgestellt und möchte heute den Lebenssinn beschreiben.

Der Lebenssinn zählt nicht zu den uns allen bekannten 5 Sinnen (Geschmackssinn, Hörsinn, Tastsinn, Sehsinn, Geruchssinn). Den Lebenssinn ordnet Rudolf Steiner den unteren Sinnen zu, dem Tastsinn, dem Bewegungssinn und dem Gleichgewichtssinn. 
Um den Lebenssinn besser zu verstehen, kann man ihn auch als Vitalsinn betrachten. Solange wir uns in unserer Umgebung und unserem Körper wohl und gesund fühlen, spüren wir ihn nicht. 

Um die Entwicklung und Pflege des Lebenssinnes eines Neugeborenen zu begleiten und zu stärken, ist das Urvertrauen bzw. eine Bindung zu den Eltern oder Bezugspersonen von großer Bedeutung. Dem Neugeborenen eine wohlige Umgebung schaffen, gesunde regelmäßige Mahlzeiten, Ruhephasen und Schlaf einräumen, auch eine angemessene Kleidung, ein gleichmäßiger Tagesablauf, Wochen und Jahres- Rhythmus tragen zu einem gesunden Bewusstwerden der eigenen Körperlichkeit bei.
Das Kind verspürt ein Gefühl des Wohlbefindens und der Sicherheit, welches die Grundlagen für eine gesunde Entwicklung sind. Im Laufe des Heranwachsens sammelt das Kind dem Alter entsprechend Erfahrungen mit dem Lebenssinn.
So gehören auch die schmerzlichen Erfahrungen dazu, beim Laufen lernen zum Beispiel. So erfährt das Kind Schmerzen, wenn es fällt, steht dennoch wieder auf und versucht es erneut, dieses mal etwas langsamer, um zu verhindern, dass es wieder fällt. So pendelt sich das Gefühl des Lebenssinnes in der Mitte unseres Wohlbefindens und der Grenze zum Schmerz ein. Um diese Grenze zu kennen, muss der Schmerz zunächst erlebt werden. Ab dem 4. Lebensjahr lernt das Kind immer bewusster seine eigenen Bedürfnisse aus dem inneren Gefühl heraus kennen und diese auch zu äußern. Hier ein kleines Beispiel: das Kind tobt ausgiebig im Garten, durch den Energieverbrauch verspürt sein Körper, dass es durstig ist. Das Kind verlangt etwas zu trinken und verspürt nach dem ersten Schluck Wasser, dass sich das Wohlbefinden in seinem Körper wieder einstellt.
Weitere körpereigenen Bedürfnisse wie z.B. Hunger, Unwohlsein, Müdigkeit oder Erschöpfung werden kennengelernt.

Bis zum Schuleintritt entwickelt sich der Lebenssinn des Kindes in einer Weise, dass es sich der neuen Situation anpassen und mit seinen Bedürfnissen umgehen kann. Der Lebenssinn entwickelt sich weiter bis in die Jugend, dabei sind neue Grenzen zu überwinden. Zum Beispiel sorgt eine anstrengende Wanderung durch Regen und Wind dafür, dass man ein Wohlbefinden verspürt, weil man etwas geschafft hat und es bis zum Ende durchgehalten hat. Das macht glücklich und zufrieden. Der ständige Austausch mit der Umwelt ermöglicht den Kindern eine gesunde Entwicklung des Lebenssinnes und gibt ihnen Sicherheit und Selbstvertrauen. 

In der Waldorfpädagogik wird der Lebenssinn in vielen Bereichen angesprochen und gefördert.
Die schöne Architektur vieler Waldorfeinrichtungen mit naturverbundenen Materialien und ausgewählten Farben in den Klassenräumen, geben den Kindern ein wohliges Gefühl.
Der Tages-, Wochen und -Jahresrhythmus mit den immer wiederkehrenden Festen vermitteln den Kindern Sicherheit. Im Gartenbau den Acker mühsam bis zum Ende zu pflügen und das Korn zu sähen, ermöglicht den Kindern das Gefühl der Erschöpfung, dagegen entsteht beim Betrachten und Ernten des Korns ein Glücksgefühl.
Mira Riedel, Förderlehrerin